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23. Mai 2018

Die Welt von Gottfried Benn

- von Barbara van Benthem - 


Briefe sind etwas Besonderes. Sie offenbaren die Persönlichkeit ihres Schreibers, öffnen ein historisches Fenster in dessen Lebens-, Arbeits-, Gefühls- und Gedankenwelt. Wer wissen möchte, ob Hermann Hesse gute oder schlechte Laune hatte, lese seine Briefe. Kann man sie kaum entziffern, klagt Hesse über den mäßigen Zustand seiner Augen, lautet der Subtext: Man bittet von Besuchen und allen weiteren mitmenschlichen Zudringlichkeiten abzusehen. Die Briefe Thomas Manns werden in zunehmendem Alter leserlicher. Als ob er sich seiner Bedeutung für die Nachwelt mit wachsendem Ruhm bewusst wird, wechselt TM von der deutschen Kurrent- in die lateinische Schreibschrift, und lässt uns teilhaben am Dichteralltag.

Die Welt von Gottfried Benn zwischen „Sputnik“, „Erdumkreisung“ und „Cro Magnon“ erschließt sich in unserem neuen Katalog nicht nur über die Briefe und Manuskripte des Dichters, vielmehr sind es die Briefe von FreundInnen und Weggefährten, die überraschende Erinnerungen und Einschätzungen zu Leben, Werk und Umfeld – ja, auch zu den Frauen in seinem Leben – geben. Da wird Benns dritte Ehefrau Ilse vor der gemeinsamen Berliner Haustür wegretuschiert. „"Er litt entsetzlich unter der Dänin", berichtet Elsa Fleischmann-Fleming. Dorothee Hahn diagnostiziert Benns Annäherungsversuche als "weiblich-passiv-aesthetische Reizung und männlich-lyrisch-aktive Reaktion". Trug Benn eine Mitschuld am Selbstmord von Anni Bernstein? Was verband ihn mit Pia Ludwig? „Herr Oelze“ findet Benn-Gedichte, und Paul Lüth weiß: "diese Benn'sche Welt ist die Welt des Rauschgiftes“.

Ein brieflicher Kosmos tut sich auf, so wie man ihn heute wohl nur in Form kryptischer Kurznachrichten in einer WhatsApp-Gruppe finden würde. Möglich gemacht hat dies Marguerite Schlüter, Benns Lektorin und Verlegerin, Herausgeberin seiner Briefe und Briefwechsel, die Instanz in Sachen Gottfried Benn, der Carsten Pfeiffer ein Denkmal mit dem Nachwort zu unserem Katalog gesetzt hat.

Femme des lettres - Marguerite Schlüter 1928 bis 2018


Marguerite Valerie Schlüter, geboren am 23. April 1928, war eine in vielfacher Hinsicht bemerkenswerte, wenn nicht gar einzigartige Persönlichkeit. In jungen Jahren vertrat sie als Mitglied der Hockey-Nationalmannschaft mehrfach die Bundesrepublik bei Länderspielen. Eine zweite Leidenschaft galt  der bildenden Kunst wie intensive Kontakte zu Künstlern sowie ihre bedeutende private Sammlung mit Werken von der  Antike bis zur zeitgenössischen Graphik von Arp, Masson,  Max Peiffer-Watenpuhl, Hans Purrmann, Emil Cimiotti u.a.  belegen. Ihre größte Leidenschaft aber galt der Literatur.  Entdeckt und gefördert hat ihr Talent Max Niedermayer.  Literaturhistorische Bedeutung gewann die mit Bestnote ausgebildete  Diplom-Bibliothekarin mit ihrem Eintritt in den  1945 von Niedermayer in Wiesbaden gegründeten Limes Verlag.  Dort avancierte sie seit 1949 schnell zur rechten Hand des  Verlegers, zur Prokuristin und alleinigen Lektorin Gottfried  Benns. Hatte der Limes Verlag in den ersten Nachkriegsjahren  wie viele andere Verlage zunächst „unkritische“ und im Sinne  der lizenzgebenden Besatzungsmächte politisch unbedenkliche  Autoren wie Goethe, Kant, Heine oder Wieland und wichtige  ausländische Autoren wie William Faulkner, John Steinbeck,  Virginia Woolf, Jean Giraudoux, Rimbaud und Jean Cocteau  verlegt, erschienen nun rasch auch Texte von Hermann Kesten,  Ernst Glaeser, Alfred Döblin, des jungen Hans Mayer, von  Stephan Hermlin und anderen. Seit 1949 wurde Gottfried Benn  zum Haus- und Hauptautor des Limes Verlages. Alle (Erst-)  Ausgaben der von Benn zwischen 1933 und 1945 geschriebenen,  aber unveröffentlichten Werke wurden von Marguerite  Schlüter lektoriert, viele Werk- und Auswahlausgaben, die  Briefwechsel Benns (erschienen bei Limes und später Klett-  Cotta) von ihr mitkonzipiert, kompiliert, redigiert oder herausgegeben.  Die Popularisierung und Verbreitung des Werkes  Gottfried Benns nach 1949 ist im Wesentlichen das Verdienst  des Verlegers Max Niedermayer und seiner Lektorin Marguerite  Schlüter, die nach dem Tode des Verlegers die Verantwortung  für den Verlag als geschäftsführende Gesellschafterin  und Verlegerin übernahm.

Viele wichtige Autorinnen und Autoren trugen unter der  Ägide Marguerite Schlüters zur Profilbildung des Limes Verlages  als eines der führenden Verlage für junge deutsche und  fremdsprachige Literatur bei. So unterschiedliche Autoren wie  Hans Arp, Max Bense, Ludwig Harig, Samuel Beckett, Maude  Hutchins, Guillaume Apollinaire, Claire und Ivan Goll, Jorge  Luis Borges, Jean Cocteau, Rene Char , Ernesto Sabato,  Richard Huelsenbeck, W. H. Auden, Milan Kundera und  Ernst Meister gehören ebenso zum „Who is who“ des Limes  Verlages wie Peter Rühmkorf, Werner Riegel oder Cyrus Atabay,  die dort ihre Erstlingswerke veröffentlichten. Werke von  Carl Einstein und August Stramm wurden neu aufgelegt.  Besondere Verdienste erwarb sich der Limes Verlag um die  damals zeitgenössische amerikanische Literatur. Truman  Capote, den Marguerite Schlüter teilweise auch übersetzte, und  William S. Burroughs wurden zu Hausautoren des Verlages.  Autoren der Beat-Generation wie Allen Ginsberg oder  Lawrence Ferlinghetti wurden bei Limes entdeckt. Henry Miller  allerdings ließ sich Limes damals „durch die Lappen gehen“.  Man hatte nach den Erfahrungen mit W. S. Burroughs  große Sorgen wegen eines Vermarktungsverbotes durch die  „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften“. Eine Anekdote,  die Marguerite Schlüter gerne erzählte.

Marguerite Schlüter war wahrlich das, was man eine femme  des lettres nennt – nicht nur eine hervorragende Lektorin  Benns, sondern ein literarisches „Trüffelschwein“, eine streitbare  Kämpferin für die Wahrung von Urheberrechten und eine  vielsprachige, hervorragende Übersetzerin aus dem Englischen,  Französischen und Italienischen. Dabei war sie nicht nur eine  Freundin der Literatur, sondern auch eine enge Freundin vieler  Literaten. Die langjährigen persönlichen (Brief-) Freundschaften  - oft rund um Benn - mit Claire Goll, Gustav René Hocke,  Albrecht Fabri, F.W. Oelze, Thea Sternheim, Ursula Haas,  Hans Egon Holthusen, nicht zuletzt mit Ilse Benn und Nele  Sörensen, der Witwe und der Tochter Gottfried Benns, belegen  dies eindrücklich.  Marguerite Schlüter ist am 7. Januar 2018 wenige Monate vor  Vollendung ihres 90. Lebensjahres friedlich verstorben. Sie ist  und bleibt untrennbar mit der bundesdeutschen Literatur- und  Verlagsgeschichte verbunden.

Die Welt von Gottfried Benn - Nachlass Marguerite Schlüter. Katalog 178. Tutzing, Mai 2018. 68 Seiten. 173 Nummern. Mit einem Nachwort von Carsten Pfeiffer.

Mehr dazu: www.autographs.de