Die Welt von Gottfried Benn zwischen „Sputnik“, „Erdumkreisung“ und „Cro Magnon“ erschließt sich in unserem neuen Katalog nicht nur über die Briefe und Manuskripte des Dichters, vielmehr sind es die Briefe von FreundInnen und Weggefährten, die überraschende Erinnerungen und Einschätzungen zu Leben, Werk und Umfeld – ja, auch zu den Frauen in seinem Leben – geben. Da wird Benns dritte Ehefrau Ilse vor der gemeinsamen Berliner Haustür wegretuschiert. „"Er litt entsetzlich unter der Dänin", berichtet Elsa Fleischmann-Fleming. Dorothee Hahn diagnostiziert Benns Annäherungsversuche als "weiblich-passiv-aesthetische Reizung und männlich-lyrisch-aktive Reaktion". Trug Benn eine Mitschuld am Selbstmord von Anni Bernstein? Was verband ihn mit Pia Ludwig? „Herr Oelze“ findet Benn-Gedichte, und Paul Lüth weiß: "diese Benn'sche Welt ist die Welt des Rauschgiftes“.
Ein brieflicher Kosmos tut sich auf, so wie man ihn heute wohl nur in Form kryptischer Kurznachrichten in einer WhatsApp-Gruppe finden würde. Möglich gemacht hat dies Marguerite Schlüter, Benns Lektorin und Verlegerin, Herausgeberin seiner Briefe und Briefwechsel, die Instanz in Sachen Gottfried Benn, der Carsten Pfeiffer ein Denkmal mit dem Nachwort zu unserem Katalog gesetzt hat.
Femme des lettres - Marguerite Schlüter 1928 bis 2018
Marguerite Valerie Schlüter, geboren am 23. April 1928, war eine in vielfacher Hinsicht bemerkenswerte, wenn nicht gar einzigartige Persönlichkeit. In jungen Jahren vertrat sie als Mitglied der Hockey-Nationalmannschaft mehrfach die Bundesrepublik bei Länderspielen. Eine zweite Leidenschaft galt der bildenden Kunst wie intensive Kontakte zu Künstlern sowie ihre bedeutende private Sammlung mit Werken von der Antike bis zur zeitgenössischen Graphik von Arp, Masson, Max Peiffer-Watenpuhl, Hans Purrmann, Emil Cimiotti u.a. belegen. Ihre größte Leidenschaft aber galt der Literatur. Entdeckt und gefördert hat ihr Talent Max Niedermayer. Literaturhistorische Bedeutung gewann die mit Bestnote ausgebildete Diplom-Bibliothekarin mit ihrem Eintritt in den 1945 von Niedermayer in Wiesbaden gegründeten Limes Verlag. Dort avancierte sie seit 1949 schnell zur rechten Hand des Verlegers, zur Prokuristin und alleinigen Lektorin Gottfried Benns. Hatte der Limes Verlag in den ersten Nachkriegsjahren wie viele andere Verlage zunächst „unkritische“ und im Sinne der lizenzgebenden Besatzungsmächte politisch unbedenkliche Autoren wie Goethe, Kant, Heine oder Wieland und wichtige ausländische Autoren wie William Faulkner, John Steinbeck, Virginia Woolf, Jean Giraudoux, Rimbaud und Jean Cocteau verlegt, erschienen nun rasch auch Texte von Hermann Kesten, Ernst Glaeser, Alfred Döblin, des jungen Hans Mayer, von Stephan Hermlin und anderen. Seit 1949 wurde Gottfried Benn zum Haus- und Hauptautor des Limes Verlages. Alle (Erst-) Ausgaben der von Benn zwischen 1933 und 1945 geschriebenen, aber unveröffentlichten Werke wurden von Marguerite Schlüter lektoriert, viele Werk- und Auswahlausgaben, die Briefwechsel Benns (erschienen bei Limes und später Klett- Cotta) von ihr mitkonzipiert, kompiliert, redigiert oder herausgegeben. Die Popularisierung und Verbreitung des Werkes Gottfried Benns nach 1949 ist im Wesentlichen das Verdienst des Verlegers Max Niedermayer und seiner Lektorin Marguerite Schlüter, die nach dem Tode des Verlegers die Verantwortung für den Verlag als geschäftsführende Gesellschafterin und Verlegerin übernahm.
Viele wichtige Autorinnen und Autoren trugen unter der Ägide Marguerite Schlüters zur Profilbildung des Limes Verlages als eines der führenden Verlage für junge deutsche und fremdsprachige Literatur bei. So unterschiedliche Autoren wie Hans Arp, Max Bense, Ludwig Harig, Samuel Beckett, Maude Hutchins, Guillaume Apollinaire, Claire und Ivan Goll, Jorge Luis Borges, Jean Cocteau, Rene Char , Ernesto Sabato, Richard Huelsenbeck, W. H. Auden, Milan Kundera und Ernst Meister gehören ebenso zum „Who is who“ des Limes Verlages wie Peter Rühmkorf, Werner Riegel oder Cyrus Atabay, die dort ihre Erstlingswerke veröffentlichten. Werke von Carl Einstein und August Stramm wurden neu aufgelegt. Besondere Verdienste erwarb sich der Limes Verlag um die damals zeitgenössische amerikanische Literatur. Truman Capote, den Marguerite Schlüter teilweise auch übersetzte, und William S. Burroughs wurden zu Hausautoren des Verlages. Autoren der Beat-Generation wie Allen Ginsberg oder Lawrence Ferlinghetti wurden bei Limes entdeckt. Henry Miller allerdings ließ sich Limes damals „durch die Lappen gehen“. Man hatte nach den Erfahrungen mit W. S. Burroughs große Sorgen wegen eines Vermarktungsverbotes durch die „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften“. Eine Anekdote, die Marguerite Schlüter gerne erzählte.
Marguerite Schlüter war wahrlich das, was man eine femme des lettres nennt – nicht nur eine hervorragende Lektorin Benns, sondern ein literarisches „Trüffelschwein“, eine streitbare Kämpferin für die Wahrung von Urheberrechten und eine vielsprachige, hervorragende Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Dabei war sie nicht nur eine Freundin der Literatur, sondern auch eine enge Freundin vieler Literaten. Die langjährigen persönlichen (Brief-) Freundschaften - oft rund um Benn - mit Claire Goll, Gustav René Hocke, Albrecht Fabri, F.W. Oelze, Thea Sternheim, Ursula Haas, Hans Egon Holthusen, nicht zuletzt mit Ilse Benn und Nele Sörensen, der Witwe und der Tochter Gottfried Benns, belegen dies eindrücklich. Marguerite Schlüter ist am 7. Januar 2018 wenige Monate vor Vollendung ihres 90. Lebensjahres friedlich verstorben. Sie ist und bleibt untrennbar mit der bundesdeutschen Literatur- und Verlagsgeschichte verbunden.
Die Welt von Gottfried Benn - Nachlass Marguerite Schlüter. Katalog 178. Tutzing, Mai 2018. 68 Seiten. 173 Nummern. Mit einem Nachwort von Carsten Pfeiffer.
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